VON PHILIPP FRITZ WELT:

Péter Györkös ist seit 2015 ungarischer Botschafter in Deutschland. Der Spitzendiplomat gilt als enger Vertrauter von Regierungschef Viktor Orbán – der wiederum dürfte ihn nicht nur deswegen, sondern auch wegen seiner Erfahrung nach Berlin geschickt haben. Der 58-Jährige studierte in den 80er-Jahren in Moskau, später arbeitete er im ungarischen Außenministerium und in der Botschaft in Bonn, war Botschafter in Kroatien und ab 2010 ungarischer Botschafter bei der EU. Die EU-Kritik seiner Regierung kann der vielsprachige Györkös deswegen so eloquent verpacken wie kaum jemand sonst. 

WELT: Herr Györkös, die ungarische Regierung lässt Waffenlieferungen für die Ukraine über ungarisches Territorium nicht zu, stemmt sich teilweise gegen Sanktionen gegen Russland und teilt sogar rhetorisch gegen die Ukraine aus. Im westlichen Bündnis fragen sich deswegen einige, auf wessen Seite Ungarn in diesem Krieg eigentlich steht. Ist Ihnen das bewusst?

PÉTER GYÖRKÖS: Ja, das ist mir bewusst – und es ist kein angenehmes Gefühl. Aber es ist etwas, das derjenige aushalten muss, der von der Richtigkeit seiner Position überzeugt ist. Wir sind schon mehrfach gegen den Mainstream geschwommen und haben am Ende recht behalten. Ich erinnere nur an die Migrationskrise 2015. Nach einiger Zeit haben andere in der EU Verständnis für unsere Haltung gezeigt, etwa wenn es darum ging, Grenzen zu sichern. Was unser Verhältnis zu Russland angeht: Wir werden seit 2014 verdächtigt, nicht im europäischen Team zu spielen. Ich war damals in Brüssel und habe die ersten zwei Sanktionspakete gegen Russland mitverhandelt. Ich kann Ihnen sagen, dass wir fest in der EU und Nato verankert waren und es auch heute sind. Bis zum fünften Sanktionspaket haben wir alles mitgetragen. Der Vorschlag der EU-Kommissionspräsidentin aber war mit uns und auch anderen Mitgliedsländern nicht abgestimmt. Das ist inakzeptabel.

WELT: Was genau meinen Sie?

PÉTER GYÖRKÖS: Frau von der Leyens Drängen auf Energiesanktionen war ein Problem. Der Europäische Rat hat sich im Grunde auf drei Dinge verständigt: nämlich, dass sich die EU-Staaten schrittweise von russischen Rohstoffen lösen, dass dabei die besondere Situation einzelner Staaten berücksichtigt wird, etwa die geografische Lage oder der Energiemix, und dass Sanktionen grundsätzlich uns nicht mehr schaden dürfen als dem Aggressor. Geografisch ist Ungarn nun mal dort, wo es ist und wir sind abhängiger von russischen Rohstoffen als andere. Radikale Sanktionen sind mit uns nicht zu haben.

WELT: Auch andere Länder im Osten der EU sind stark von russischen Rohstoffen abhängig, etwa die Slowakei oder Bulgarien. Die aber wettern nicht dermaßen laut gegen schärfere Sanktionen gegen Russland wie die ungarische Regierung.

PÉTER GYÖRKÖS: Jemand sprach mal davon, dass sich manche gerne im Windschatten Ungarns aufhalten. Zwei Dinge kommen bei der Wahrnehmung von Ungarn zusammen: Premierminister Viktor Orbán spricht recht offen, auch wenn er von der internationalen Presse dämonisiert wird. Und dann ist Widerspenstigkeit ein wichtiges Element der ungarischen Mentalität. Die Art der Kritik aber ist zweitrangig. Ich bleibe dabei, dass die Vorschläge der Kommission dem Konsens der Staats- und Regierungschefs widersprachen. Wir sind gegen einen sofortigen Stopp von Energieimporten. Wir brauchen Zeit und Geld, um uns von Russland abzukoppeln.

WELT: Tun Sie das denn auch?

PÉTER GYÖRKÖS: Wir haben seit 2010 sechs Gas-Interkonnektoren zu unseren Nachbarländern gebaut und uns gleichzeitig für Großprojekte wie die Nabucco-Pipeline eingesetzt, die Gas aus Asien nach Europa transportieren sollte. Das Projekt ist mittlerweile gescheitert.

WELT: Gleichzeitig hat Orbán in den vergangenen Jahren seine Energiepartnerschaft mit Russland ausgebaut. Das betrifft nicht nur Gas und Öl, sondern auch die Atomkraft. Wie ernst ist es Ihnen tatsächlich damit, sich von Russland unabhängig zu machen?

PÉTER GYÖRKÖS: Heute ist Ungarn um 30 Prozent weniger abhängig von russischem Öl als noch 2010. Was die Atomkraft angeht, also den Ausbau des Paks-Kraftwerks: Brüssel hat den Ausbau gebilligt. Russland ist in der Sache ein Partner, da die Atomkraft bei uns im Land nun mal auf russischer Technologie basiert. Auch sind am Ausbau westliche Firmen beteiligt.

WELT: Der russische Staatskonzern Rosatom hat die Federführung. Es handelt sich um ein russisches Investment.

PÉTER GYÖRKÖS: Das ist ein internationales Projekt. Die friedliche Nutzung der Atomenergie aber ist kein Bestandteil der Sanktionspakete gegen Russland. Auch nimmt der russische Staat durch so ein Projekt viel weniger ein als durch den Verkauf von Öl und Gas. Wir müssen unsere Sanktionspolitik doch auch einmal kritisch bewerten. Der russische Staat nimmt heute mehr ein, als vor dem Einsatz der Sanktionen – und das liegt nicht an uns, das wissen Sie. Es ist einfach, mit dem Finger auf andere zu zeigen, um sich selbst freizumachen.

WELT: Die Russlandpolitik Deutschlands der vergangenen Jahre kann als gescheitert gelten. Die Bundesregierung erfährt viel Kritik. Als deutscher Journalist aber muss ich auch kritisch anderen Regierungen gegenüber sein.

PÉTER GYÖRKÖS: Ich habe kein Problem damit, wenn ein Deutscher uns kritisiert, solange ich antworten kann. Wir müssen offen miteinander umgehen. Ich sage Ihnen noch was: Ich denke, Deutschland tut sehr viel für die Ukraine. Die Deutschen haben schon jetzt einen Preis dafür gezahlt und sie werden weiterhin dafür zahlen. Die laute Kritik an Deutschland ist unfair. Auch stört mich, wenn die Ukraine uns kritisiert. Ungarn tut sehr viel für die Ukraine.

WELT: Können Sie das ausführen?

PÉTER GYÖRKÖS: Wir haben zum Beispiel 750.000 Flüchtlinge aus der Ukraine aufgenommen.

WELT: Diese Menschen haben die Grenze nach Ungarn überquert. Allerdings bleiben die meisten von ihnen nicht bei Ihnen im Land, für sie ist Ungarn ein Transitland.

PÉTER GYÖRKÖS: Ja, aber das gilt auch für andere Länder. Schätzungen der UN zufolge halten sich circa 150.000 Ukrainer in Ungarn auf und täglich kommen circa 10.000 zu uns. Auch schafft Ungarn medizinische Güter oder Lebensmittel sogar in den Osten der Ukraine. Zudem bieten wir unter anderem an, für die Ukraine als Tor zum Weltmarkt zu fungieren. Ein Teil der Getreideernte könnte so exportiert werden.

WELT: Von der Ukraine wird bemängelt, dass westliche Waffen nicht über ungarisches Territorium transportiert werden dürfen.

PÉTER GYÖRKÖS: Und dafür gibt es einen guten Grund: Russland hat früh klargemacht, dass Waffenlieferungen legitime militärische Ziele seien. Auf der ukrainischen Seite der Grenze nun lebt eine ungarische Minderheit. Die Regierung ist laut Verfassung dazu verpflichtet, diese Menschen zu schützen. Würden Waffentransporte dort angegriffen werden, wären diese Menschen in Gefahr. Das können wir nicht zulassen. So einfach ist das.

WELT: Das Gleiche könnten polnische Politiker auch über die polnische Minderheit im Grenzgebiet sagen. Warum schafft Polen dann Waffen in die Ukraine?

PÉTER GYÖRKÖS: Das müssen Sie die Polen fragen. Wir haben Russland oft anders bewertet als unsere polnischen Partner. Deswegen war das Thema bei Gesprächen in der Visegrád-Gruppe auch nie weit oben. Es ist doch so: Wir gehen nicht davon aus, dass Russland uns angreifen wird. Polen und Balten sehen das anders und da haben sie einen legitimen Punkt. Das verstehe ich.

WELT: Ungarn aber ist auch in der Nato. Ein Angriff auf Polen wäre ein Angriff auf das gesamte Bündnis.

PÉTER GYÖRKÖS: Richtig. Wir nehmen diese Sorge ernst, wir sind ein verlässliches Nato-Mitglied. Eine Woche vor den Wahlen im April erst wurde in Ungarn ein Rheinmetall-Werk eingeweiht. Es ist ein Ausweis dessen, dass wir unsere Streitkräfte modernisieren. Unsere Kampfjets sind an Air-Policing im Baltikum beteiligt. Übrigens, wir sind Teil des EUKonsens über die gemeinsame Großfinanzierung von Waffenkäufen für die Ukraine. Viktor Orbán spricht sich schon seit 2016 für eine europäische Armee aus. Das heißt, dass die Nato europäischer werden, aber transatlantisch bleiben muss.

WELT: Wie kommt es, dass die übrigen Ostmitteleuropäer Russland mit Verweis auf die eigene Geschichte als Gefahr sehen, Ungarn aber eine andere Haltung einnimmt? Moskau schließlich hat gegenüber Ungarn eine Geschichte, die von Gewalt und Unterdrückung geprägt ist. Ich erinnere nur an den ungarischen Volksaufstand im Jahr 1956.

PÉTER GYÖRKÖS: Das ist richtig. Und genau deswegen muss uns niemand belehren, was unser Verhältnis zu Russland angeht. Wir helfen der Ukraine, wir helfen den Menschen, die fliehen und leid erfahren. Aber wir haben aus unserer Geschichte gelernt, dass wir alles tun müssen, um einen direkten Krieg mit Russland auf unserem Territorium zu vermeiden. Die Russen sind im Krieg gnadenlos und zerstörerisch. Das ist schrecklich, aber das ist nicht unser Krieg. Andere mögen das anders sehen und sie mögen ihre Gründe haben, aber das ist unser Standpunkt. Wissen Sie, ich kenne die sowjetische und russische Geschichte ein wenig, ich habe in den 80er-Jahren in Moskau studiert. Als ich die Rede von Putin zu Beginn des Krieges hörte, dachte ich, das klingt nicht sowjetisch, das ist der Geist aus früheren Jahrhunderten. Das wird man in Polen auch so wahrgenommen haben und die Polen sind da sensibel. Sie wissen, dass es unter den Zaren oft keinen polnischen Staat gab, dass Polen geteilt wurde. Die Polen sagen – und das verstehe ich –, wenn russische Panzer nach Westen rollen, dann rollen sie auf uns zu. Für uns beide ist gleichzeitig die Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine von höchster Bedeutung.

WELT: Wenn Sie Polen so gut verstehen, wie kommt es, dass gerade aus Warschau zuletzt so viel Kritik an Ungarn zu hören ist?

PÉTER GYÖRKÖS: Es ist ein interessantes Phänomen. Ich sehe etwa, dass manche sich wünschen, dass sich Polen von Ungarn entfremdet. Einigen war unsere Zusammenarbeit in der Visegrád-Gruppe immer ein Dorn im Auge. In der Tat ist das Verhältnis zwischen Warschau und Budapest gerade schwierig. Wir bewerten Russland unterschiedlich, daraus mache ich kein Geheimnis. Aber ich bin davon überzeugt, dass wir in der EU in Zukunft wieder zusammenarbeiten werden. Die Gesprächskanäle sind offen, unsere neue Präsidentin, Katalin Novak, führte ihre erste Auslandsreise nach Warschau, die zweite dann nach Berlin. Die aktuellen Spannungen werden auch wieder in den Hintergrund treten. Ungarn und Polen haben langfristig gemeinsame Interessen.

WELT: Betrifft das auch den Rechtsstaatskonflikt, also die Auseinandersetzungen wegen rechtsstaatlicher Standards, die Ungarn und Polen seit Jahren mit der Kommission führen?

PÉTER GYÖRKÖS: Wenn wir aus Brüssel politisch oder ideologisch angegriffen werden, werden wir auch in Zukunft gemeinsam Antworten finden.